María do Mar Castro Varela über kontrapunktisches Denken

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Über moralischen Anspruch hinter barbarischen Praktiken. Rede von María do Mar Castro Varela im Rahmen einer 10-Jahres-Festveranstaltung des C3 – Centrum für Internationale Entwicklung. Bericht von Daniela Hinderer / Paulo Freire Zentrum

„Die westliche Zivilisation? Das wäre eine gute Idee“ zitiert María do Mar Castro Varela Mahatma Gandhi, nennt Europa „barbarisch“ und zeigt auf, wie eine kritische Pädagogik widersprüchliches Handeln bewusstmachen kann. Der Andrang zur 10-Jahres-Feier des C3 – Centrum für Internationale Entwicklung am 6. November 2019 im Foyer des C3 war groß. María do Mar Castro Varela, Professorin für Pädagogik und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und Gründerin des bildungsLab* in Berlin, nutzte die Gelegenheit, um die „Verwickeltheit“ in globale Unterdrückungsverhältnisse aufzuzeigen.

Unauflösbare Widersprüche aufzeigen

Als privilegierte Europäer*innen halten wir durch ganz alltägliche Handlungen das globale kapitalistische System aufrecht – ein System, das seine Dominanz auf Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung aufbaut. Castro Varela nennt diese Form der kolonialen Wirkmächtigkeit eine „komplizenhafte Handlungsmacht“. Diese sei geprägt von einem unauflösbaren Widerspruch: moralischer Anspruch einerseits und barbarische Praktiken andererseits. Bereits mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in New York 1948 hätte sich diese Komplizenschaft abgezeichnet: Die Tatsache, dass in einer Stadt, in der Menschen mit schwarzer Hautfarbe im Bus nicht neben Menschen mit weißer Haut sitzen durften, alle Menschen für gleich erklärt wurden, sei exemplarisch für widersprüchliches Handeln. Während sich Europa heute wegen seines zivilisatorischen Fortschritts und seiner Willkommenskultur rühmt, ertrinken Menschen im Mittelmeer. Ein weiteres Paradox sei es, „Ich bin Antikapitalist“ in ein Smartphone zu tippen, bei dessen Produktion Menschenrechte missachtet werden. Solche Widersprüche in Handlungen seien nicht auflösbar. Castro Varela fordert eine Bildung, die Widersprüche ernst nimmt und anspricht. Die ‚kontrapunktische Pädagogik‘ zielt darauf ab.

‚Kontrapunktik‘: mehrere Erzählungen nebeneinanderlegen

Der Kontrapunkt, das ist die Kunst, mehrere Stimmen als selbstständige und gegensätzliche Melodielinien nebeneinanderher zu führen. Obwohl immer wieder interveniert wird, herrscht Harmonie. Eine kontrapunktische Pädagogik bedeute nicht, nur lokal zu denken und „mit meinen fünf Freunden Politik machen“. Eine kontrapunktische Bildung schafft einen Raum, der Menschen in die Lage versetzt, Allianzen zu bilden, Debatten zu führen und über die eigene Perspektive hinauszudenken. In einer Gesellschaft, die durch Erfahrungen von Migration und Flucht geprägt ist, treffen unterschiedliche Perspektiven und Geschichten aufeinander. In einer solchen Gesellschaft gelte es, Texte und Geschichten aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu lesen – und über diese zu einem harmonischen Ganzen zu gelangen. „Menschen kommen zusammen; eine Person erzählt eine Geschichte, eine andere interveniert, erzählt dieselbe Geschichte aus einer anderen Perspektive; alle diese Interventionen zerstören das Bild nicht“, so die Forscherin. Im Gegenteil, erst wenn das Narrativ aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird, könne eine ganzheitliche Betrachtung und somit nicht einseitig dominierte Darstellung ermöglicht werden. Dies verlange danach, nicht nur die Geschichten der ‚Hauptrollen‘ zu hören und zu erzählen, sondern auch die Geschichten der ‚Nebenrollen‘, die sonst nicht gehört werden. In einem migrantischen Kontext müssen wir uns fragen, welche Geschichten über Migration und Flucht erzählt werden, und welche nicht. Zum Beispiel jene, dass türkische Gastarbeiter Anfang der 60er Jahre nach ihrer Ankunft in München in unterirdischen Gängen zu den Fabriken gebracht wurden, weil die Regierung nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs „der Bevölkerung kein Elend zumuten“ wollte.

Denkmuster verlernen

Kritische Bildung müsse ermöglichen, nicht nur Neues zu lernen, sondern auch dominante Denk- und Handlungsgewohnheiten zu verlernen und Überzeugungen aufzugeben, „die wir lieb gewonnen haben“, so Castro Varela. Solche liebgewonnenen Überzeugungen bestimmen, wie wir Bildung verstehen, was Gerechtigkeit für uns bedeutet bis hin zu wie wir glauben, dass eine Beziehung ablaufen soll. Überzeugungen zu hinterfragen und sich zu überlegen, ob es vielleicht andere Formen von Bildung, Beziehung und Gerechtigkeit geben kann – das sei Aufgabe einer kontrapunktischen Bildung.

„Ich bin die Quelle“

Kontrapunktisches Denken lässt partikulares, eigenes Denken und Wissen, ein „schwaches Denken“, zu, statt sich nur auf „starkes Denken“ zu stützen, indem wir uns auf nur eine Quelle berufen. Kritisches Denken und Hinterfragen erfordert, sich  von überliefertem Wissen lösen zu können. Stattdessen dürfe man eigene Erfahrungen in die Debatte einbringen und eigene Geschichten erzählen. Kontrapunktische Bildung schafft einen Raum, der anderes, partikulares Denken zulässt – einen Raum, der widersprüchliches Handeln, komplizenhafte Handlungsmacht, aushält, ernst nimmt und bespricht.

Daniela Hinderer studiert Internationale Entwicklung an der Uni Wien und ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at.